Nach den früheren Diskussionen um eine sog. Klassenjustiz ist zuletzt wieder die tägliche Arbeit der Strafrechtspflege in den Fokus kritischer Betrachtung geraten. In seinem Sachbuch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ (Bespr. von Lichtenthäler in: StV 2022, 830) zeigt etwa der Jurist und Autor Ronen Steinke aus seiner Sicht systematische Ungerechtigkeiten im Strafsystem auf und erhebt anhand zahlreicher Beispiele den Vorwurf, die Justiz behandele arme und sozial benachteiligte Menschen schlechter als reiche und privilegierte.
In wissenschaftlicher Hinsicht hat der Kriminologe Ralf Kölbel die „dunkle Seite des Strafrechts“ in Erinnerung gerufen (NK 2019, S. 249): Weil sich Teile der Strafrechtswissenschaft zu den stetigen Verschärfungen in den letzten Jahren affirmativ geäußert haben, mahnt er an, sich nicht nur zu der vermeintlich „hellen Seite“ (mehr Schutz, Prävention und Gerechtigkeit), sondern auch zu der kriminologisch erforschten dysfunktionalen Wirklichkeit strafrechtlicher Sanktionierung zu verhalten. Dazu zählt insbesondere:
- Die verhaltenslenkende Funktion der Strafe ist zwar theoretisch plausibel, aber empirisch kaum belegt; sie wird von Politik und Gesellschaft massiv überschätzt.
- Strafrecht löst keine sozialen Probleme, sondern verschärft sie.
- Die Instanzen der Strafrechtspflege operieren höchst selektiv und sind in ihren Filterentscheidungen durchlässig für Alltagsmythen, Vorurteile und soziale Einflüsse aller Art; nur ein Bruchteil aller tatsächlich begangenen Taten wird am Ende bei Strafe abgeurteilt.
- Intensiviert werden diese Prozesse durch allerorten knappe Ressourcen und eine chronische, bisweilen auch mehr subjektiv empfundene „Überlastung“ der Justiz.
- Die Strafjustiz reduziert komplexe Lebenssachverhalte und Biografien (notwendigerweise) auf singuläre Akte individueller Verantwortung.
- Strafrecht trifft wegen der in ca. 80 % aller Fälle verhängten Geldstrafe arme Menschen grundsätzlich härter als reiche.
- Hinzu kommt der ungleiche Zugang zu effektiver, aber teurer Verteidigung.
Entsprechende sehr konkrete Erfahrungen, was gerade arme, schwache, kranke oder sonst benachteiligte Menschen bisweilen in der Praxis der Strafrechtspflege erleben, machen auch (Jura-)Studierende der Universität Mainz in den praktischen Lehrprojekten des ZiF immer wieder, insbesondere im Rahmen der "Ersten Rechtshilfe" in Kooperation mit der Mainzer Jugend- und Drogenberatung "Brücke". Einige dieser Fallbeispiele sollen deshalb an dieser Stelle dokumentiert und damit auch in diesem Kontext die „dunkle Seite des Strafrechts“ sichtbar gemacht werden.
Fallbeispiel 1: 3 Monate für eine Löffelspitze Amphetamin
Fallbeispiel 2: 6 Monate für zwei Bier
Fallbeispiel 3: 4 Monate für ein Fahren ohne Fahrschein